„Wenn das Leben Dich lähmt…“
Die zweite depressive Episode begann nach der Trennung von einem Mann, auf den ich lange gewartet habe. Meinen Enkelkindern werde ich von ihm als „Meine erste große Liebe“ erzählen. Ich war über Jahre heimlich verliebt, und hatte nicht mal ansatzweise den Gedanken jemals, mit ihm zusammenzukommen. Und dann ist es passiert. Aber wie es manchmal so spielt, je höher man fliegt, desto tiefer kann man fallen. Ich krachte nicht nur auf den Boden der Tatsachen zurück, nein, ich schlug durch die Bodenplatte und rauschte bis in den Keller hinab. Die Trennung war der Anstoß zu meiner bisher „schwersten“ depressiven Episode, 10 Jahre nach dem ersten Kontakt mit dieser Krankheit. Das waren die Jahre 2002–2005.
In dieser Zeit habe ich fast die ganze Bandbreite kennenlernen dürfen. Im Erstkontakt mit meiner damaligen Hausärztin bin ich schlicht zusammengebrochen und konnte nicht mehr sprechen. Es liefen nur Tränen. Die ersten Antidepressiva waren nötig. Da diese aber erst nach 2 bis 4 Wochen wirken, bekam ich zusätzlich Spritzen, um den Akutzustand aufzufangen. Damit ging es dann einigermaßen. Eine Krankschreibung war zu der Zeit undenkbar. Ich hatte Panik davor, dass irgendwer mitbekommen würde, wie es mir ging. Es durfte niemand davon erfahren, schon gar nicht aus meinem beruflichen Umfeld. Zu der Zeit gab es immer noch kein Verständnis für Depressionen. Ich würde sogar so weit gehen, dass Depressionen damals vor 20 Jahren sogar derart stigmatisiert wurden, als hätte man eine geistige Behinderung.
Ich litt unter Ein- und Durchschlafstörungen, zudem an Apathie, die sich in lähmungsähnlichen Zuständen zeigte. Die Kraft, die ich brauchte, um die Arbeitswoche zu bewältigen, entlud sich am Wochenende, wo ich die meiste Zeit steif und bewegungsunfähig in einer Position über Stunden verharren konnte, bei vollem Bewusstsein. Diese Stunden vergingen wie im Flug. Sobald die Dunkelheit einsetzte, stieg die Panik auf, dass ein weiterer Tag vor mir liegen würde, den ich überstehen müsse. Natürlich zusätzlich zu den Hauptmerkmalen einer Depression. Und ich war hochgradig suizidgefährdet.
Die Tabletten hielten mich aber wie Buchstützen in meinem Leben, so dass ich nicht umfiel. Ich nahm 2 Präparate. Ein klassisches Antidepressivum, das Mundtrockenheit verursachte, Gewichtszunahme und den Kopf in Watte-Wolken verwandelt hat. Alles war gedämpft, plüschig, aber eben in Grau, wie Zuckerwatte in einem Schwarz-Weiß Film. Das 2. Medikament waren meine Bettkanten-Tabletten. Nach Einnahme hatte ich exakt noch 30 Minuten Zeit, danach gab es keine Erinnerungen mehr wie der Abend endete. Und ich musste mindestens 8 Stunden schlafen, ansonsten war Aufwachen schwierig. Es heißt immer, dass es Depressiven hilft einen geregelten Tagesablauf zu haben. Durch die Medikamente war mein Abend getaktet. Wenn ich keine 8 Stunden schlafen konnte, musste ich die Tabletten aussetzen. Dann lag ich wach.
Es gibt eine Therapieform mit Schlafentzug. Darüber werde ich noch berichten, wenn ich die mir bekannten Therapiemöglichkeiten erkläre. Eine Rehamaßnahme wurde eingeleitet. 6 Wochen Schwarzwald, Luisenklinik Bad Dürrheim. Nicht, weil ich Berg- oder Waldfan war. Ich wollte von ALLEM weg. Dahin, wo mich niemand kannte. Ich wollte nicht mit belasteten Augen und vorgefertigten Meinungen gesehen werden, sondern ohne mich verstellen zu müssen dort aufgenommen werden. Da ich suizidgefährdet war, konnte ich kein Einzelzimmer in den ersten 3 Wochen bekommen. Also teilte ich mir ein Zimmer mit einem Mädchen, das schon 3 Wochen dort war. Das war wie mitten im Schuljahr die Klasse wechseln. Wie in einem Highschool Film hörte ich sie irgendwann auf dem Flur über mich sagen, dass ich total langweilig wäre, aber wenigstens meine Klappe halten würde. Damit könnte Sie leben, aber froh wäre Sie immer noch nicht, dass Sie das Zimmer teilen muss.
Auch Essstörungen behandelte man dort, und so gab es eine feste Tischordnung. Ich saß mit einer Arzthelferin, einem selbständigen Pool- und Schwimmteich-Bauer, und einem Angestellten vom Finanzamt an einem Tisch. Die Arzthelferin war als Akut-Überweisung dort, weil sie sich Verletzungen zufügte. Bei mir dachten alle, dass ich „Ritzer“ bin. Ich hatte zu dem Zeitpunkt 2 Katzen, und meine Unterarme sahen aus, als würde ich regelmäßig Klingen benutzen. Das tat ich nicht.
Da war ich nun, mit knapp Mitte zwanzig, mit 3 lebenserfahrenen, Mitte 40 bis Mitte 50-Jährigen an einem Tisch. Durch mein Übergewicht bekam ich hin und wieder den Nachtisch der anderen, wenn mein Essen scheußlich und unessbar war. Das durfte das Personal aber nicht sehen. In den ersten Tage war ich irritiert, dass die Magersüchtigen nach dem Essen nicht aufstanden um zu gehen. Sie durften nicht. Man wollte verhindern, dass Sie das Essen wieder hochwürgten. Alles wurde überwacht, sofern Sie konnten.
Nach 3 Wochen bekam ich dann ein Einzelzimmer, weil ich unauffällig war. Ich musste unterschreiben, keinen Suizid zu begehen. Psychologische Kriegsführung, Vertragsbruch würde ich mit dem Leben bezahlen! Und tatsächlich hat ein Mädchen während der 6 Wochen versucht sich dort das Leben zu nehmen. Das erste Mal, dass ich jemanden in Zwangsjacke gesehen habe, die wie im Film ausrastete. Einzelzimmer hieß aber trotzdem, dass 3 Mal in der Nacht kontrolliert wurde, ob ich atmend im Bett gelegen habe.
Gleichzeitig musste ich zustimmen, dass meine Dosis erhöht wurde: „Ihre Stimmung ist leider noch nicht so, wie WIR uns das wünschen. Was halten Sie davon, wenn WIR ihre Dosis erhöhen?“ „Eigentlich gar nichts. Was kann ich tun, damit das nicht passiert?“ „Gar nichts. WIR sind der Rentenkasse gegenüber verpflichtet, Sie innerhalb von 6 Wochen arbeitsfähig zu machen, bzw. zu erhalten.“ „Das heißt, ich bekomme keine Verlängerung, wenn es mir noch nicht gut geht, nur eine stärkere Dosierung?“ „Richtig. Eine Verlängerung ist in ihrem Kostenplan nicht vorgesehen. Nutzen Sie einfach die Zeit, die Sie hier sind. Zu Hause empfehlen wir eine ausgiebige Verhaltens- und Gesprächstherapie.“
Die habe ich dann gemacht, und habe damit 20 Jahre durchhalten können, bis es mich jetzt wieder eingeholt hat. Für alle Skeptiker, und davon sind mir viele über den Weg gelaufen, die immer noch sagen: „Was soll reden denn helfen? Das bringt doch alles nichts!“
Denen sei gesagt, egal welchen Weg Du findest: Reden, Schreiben, Singen, Malen, Tanzen…meinetwegen auch nackt, rückwärts, im Kreis unter Vollmond: Gib ALLEM eine Chance! Es könnte Dich weiter bringen, als Du für möglich hältst.