„Die Erste vergisst man nie…“
Meine erste depressive Episode hatte ich im Alter von 15 Jahren. Damals, nach einem Streit, sagte mir meine Mutter vor meinem Vater und meiner Schwester, dass ich als Ihre Tochter ihr „scheißegal“ bin, und ihr auch egal wäre, was aus mir wird. Welchen Schaden das in mir angerichtet hat, kann sich jeder vorstellen. Mein ganzer Selbstwert brach zusammen und meine Zukunft wurde für mich dadurch zu einer immer größer werdenden, unrealen Blase. Wenn die Frau, die mich geboren hat, nicht liebte, warum sollte ich es tun? Warum sollte Irgendjemand es tun?
Danach lebte ich weiter mit meinen Eltern und meiner Schwester zusammen, ohne über ca. ein Jahr wesentlich mit meiner Mutter zu sprechen. So oft ich konnte, nahm ich meine Mahlzeiten alleine zu mir, um unsichtbar zu sein. Wenn mein Vater anwesend war, verhielten wir uns unauffällig. Der Fokus lag meistens auf meiner Schwester, und so war ich unter dem Radar. Als mein Vater gestorben ist, wurde ich in vielen Trauerbriefen und Beileidsbekundungen vergessen. Als ich während der Organisation der Beerdigung ans Telefon meiner Mutter gegangen bin, musste ich einmal bei einem Telefonat ausführlich erklären, wer ich denn überhaupt sei, und warum ich ans Telefon gehen würde.
Damals hat die Mutter meiner besten Freundin vieles von dem, was mich bewegt hat, mitbekommen. Ihre Fürsorge werde ich ihr niemals vergessen. Sie sorgte und kümmerte sich so gut sie konnte um meine Sorgen und mentalen Belange, versuchte oft mich aufzufangen. Innerhalb der Familie fand ich Geborgenheit bei meiner Großmutter väterlicherseits, zu der ich immer geflohen bin, wenn ich nicht zu Freunden konnte. Die ersten Medikamente in Form von Johanniskraut Kapseln wurden Teil meines Lebens. Und ich begann meine ersten kostenlosen Therapiesitzungen bei der Diakonie, die ich mir heimlich organisierte, und auch heimlich dorthin mit dem Bus gefahren bin.
Zu dem Zeitpunkt waren Depressionen weitgehend verpönt und ein echtes Tabuthema. Ausgrenzung drohte – wie sollte ich die aushalten? Das war 1992. Sämtliche Andeutungen auf psychische Probleme, oder gar ein mentaler Zusammenbruch, galt als bloße Anstellerei, Überempfindlichkeit und Labilität, bei der „der Ernst des Lebens“ wohl fehlte. Und man hatte sich generell und überhaupt zusammenzureißen! Ich war nie das beliebte Mädchen oder gehörte zu denen. Mobbing in der Schule war an der Tagesordnung und wurde nicht weiter durch Lehrer beachtet oder durch Intervention verhindert. In der Pubertät begann dann auch mein Übergewicht, dass obendrein Futter für die Lästermäuler war. Als Kirsche obendrauf, war ich auch noch die Tochter vom Hausmeister. Das ist wie Lehrerkind sein, nur dass Du das Ansehen eines Bediensteten, eines Müllwagenfahrers oder der Klofrau hast.
Diese erste Depression war damals schon mit dem Wunsch zu sterben verbunden. Allerdings wusste ich mit 15 noch nicht so recht, wie ich es anstellen sollte, und es fehlten schlicht die Möglichkeiten an Tabletten oder andere Substanzen zu kommen. Es lebe das Land- und Dorfleben einer Kleinstadt. Natürlich habe ich an Rasierklingen und Pulsadern gedacht. Mein Vater hatte den klassischen Rasierhobel, und so waren Klingen immer verfügbar. Aber gleichzeitig hatte ich Gedanken über meine ausrastende Mutter in meinem Kopf, die aufgrund der Sauerei in der Badewanne, in meiner Vorstellung herumgeschrien hätte, um ihren Unmut über die Verschmutzung kundzutun, und mich zu beschuldigen an diesem ganzen Wahnsinn überhaupt Schuld zu sein.
Aber hätte ich eine Möglichkeit in meiner jugendlichen Naivität und Unwissenheit gefunden, schmerzfrei mein Leben zu beenden, wäre ich vielleicht erfolgreich gewesen. Diese erste Depression endete schleichend und dank der heimlichen Therapie bei der Diakonie. Mein Fokus lag weiterhin darauf, unsichtbar zu sein. Meine Energie steckte ich in meine schulischen Leistungen, statt in mein soziales Leben, und ich machte am Ende den Abschluss an der Realschule als Klassen- und Zweit-Jahrgangsbeste. Zu Hausmeister Tochter, und fettes Kind, kam also noch die Streberin dazu.
Meine Eltern zwangen mich eine Ausbildung zu machen, und so wurde mein Wunsch, das Abitur zu machen, um danach studieren zu gehen, verhindert. Viele fragen mich immer, warum ich mich nicht durchgesetzt habe. In den 90ern, mit 14/15 Jahren sah das Leben noch anders aus, als das heute der Fall ist. Das Selbstbewusstsein war doch ein anderes. Ich frage mich rückwirkend dann und wann, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn Sie mich meinen Weg hätten gehen lassen. Ob ich der Depression entkommen wäre…
In einem Streitgespräch mit meinem verstorbenen Vater kam es irgendwann nochmal auf das Thema der verpassten Chancen. Er sagte mir, dass wenn Sie mich das Abitur nicht hätten machen lassen, es wohl daran gelegen hat, dass meine schulischen Leistungen zu schlecht waren. Das Gespräch endete, nachdem ich ihm den Buchpreis mit der Widmung meines damaligen Schuldirektors gezeigt hatte, in der er mir zur außerordentlichen Leistung gratulierte, und mir alles Gute für eine erfolgreiche Zukunft wünschte. Danach sprachen wir nie wieder darüber.