Mein Alltag, oder „Mama, bist Du immer noch traurig?“

„Depressiv Erkrankte sucht Anschluss am Leben in Teilzeit…“

Aktuell bezeichne ich mich als Teilzeit-depressiv. Die eine Hälfte des Tages darf ich krank sein, die zweite Hälfte des Tages muss ich funktionieren, denn da sind meine Kinder zurück aus Schule und Kita. Vormittags, sobald ich alleine bin und die Kinder aus dem Haus sind, schlafe ich meistens. Es heißt ja immer, dass Schlaf die beste Medizin sei. Ich habe aber auch keine andere Wahl. Ich kann mich einfach nicht wach halten. Du kennst diese Kinder, die beim Essen einschlafen und in die Spaghetti mit Soße fallen. Das bin ich in groß. Wenn ich Arzttermine habe, oder etwas organisieren muss für die Kinder, dann muss ich meinen Mann bitten, mich zu einer bestimmten Uhrzeit anzurufen, damit ich rechtzeitig gerichtet bin. Anders schaffe ich es nicht, selbstständig aufzustehen oder wach zu werden. Nein, auch Wecker weit weg legen, Weckton regelmäßig ändern oder dergleichen hilft da nicht. Entweder ich überhöre ihn oder komme instinktiv auf die Snooze Funktion, die 3 Mal wiederholt, bevor sie auf den nächsten Tag umspringt.

Für meine Kinder hoffe ich, und lebe ich immer noch in dem Irrglauben, dass ich meine Depression gut vor Ihnen verstecken kann. Bis dann mein jüngster Sohn zu mir gekommen ist, mein Gesicht in seine kleinen, zarten Hände genommen hat, mir in die Augen geschaut hat, und fragte: „Mama, bist Du eigentlich immer noch traurig?“

Wow! Da hatte er mich kalt erwischt. Ich nickte, und sagte: „Manchmal bin ich das noch“. Kinder sind ja Gott sei Dank erfrischend ehrlich. Er sagte daraufhin zu mir: „Das ist nicht so schlimm, Mama! Ich hab Dich trotzdem sehr lieb. Hast Du das verstanden?!“, stieg von meinem Schoß ab, und verschwand im Spielzimmer, um sein Lieblingsauto zu holen, und spielte wie selbstverständlich weiter. Klingt merkwürdig, aber das machte mich ein kleines bisschen stolz auf Ihn. Er hatte verstanden, was ich in dem Moment brauchte – Kenntnisnahme und Selbstverständlichkeit seiner Liebe zu mir.

Nun stand ich also vor der Entscheidung, meine Kinder weiterhin anzuflunkern oder einen offenen und ehrlichen Umgang mit meiner Erkrankung zu pflegen. Die Vorboten zeichneten sich schon lange ab. Wenn ich sie ins Bett bringe und es dunkel ist, dann entstehen immer die ehrlichsten Gespräche zwischen uns, die meistens mit „Mama, weißt Du was?“ oder „Mama, kann ich Dir was sagen?“ anfangen. Und da der Tod durch das Versterben meines Schwiegervaters und meiner Vorgänger-Hündin bereits Thema in ihren kurzen Leben war, kam an einem Abend in diesem Sommer aus dem Nichts dann plötzlich: „Mama, weißt Du was? Wenn Du gestorben bist, werde ich Dich schrecklich vermissen.“

Ich zuckte innerlich zusammen, nahm mir einen Moment, und meinte dann: „Wisst Ihr was? Bis ich sterbe, vergehen noch gaaaaaaaaanz viele Jahre. Dann seid Ihr schon lange erwachsen, habt vielleicht schon eigene Kinder, um die ihr euch kümmert. Und ich bin dann schon ganz alt. Und dann ist es auch ok, wenn ich gehe. Und dann warte ich auf Euch. Meine Oma hat immer gesagt, wenn man in den Himmel kommt, dann wohnt man wieder in einem großen Haus und da sind alle Menschen und Tiere, die man hier auf der Erde dolle geliebt hat. Und dann können wir irgendwann wieder zusammen sein.“

Und auch wenn ich dachte: „Puh, nochmal gerade so die Kurve bekommen“, kam ich mir unzufrieden und heuchlerisch vor. Die zwei konnten sich mit dem Gedanken anfreunden und schliefen dann bald ein. Ich lag aber wach. Die Wahrheit ist, ich weiß nicht, ob ich wirklich alt bin, wenn ich diese Welt verlasse. Mehr als 50 % der Depressiven sehnen sich nach dem Tod. Wir hoffen, dass dann unser Leiden, die Traurigkeit, die Überforderung, die Verzweiflung aufhören, und sich die Leichtigkeit und Fröhlichkeit einstellt, die wir nicht in der Lage sind zu fühlen.

Aktuell bin ich wie eine leere Cola-Dose: Ich glänze nach außen, habe die ein oder andere Beule, die man sieht, aber nicht weiter schlimm. Innen bin ich hohl, nüchtern, neutral, regungslos und
l e e r. Das überspiele ich nach außen. Mein Umfeld ist ohnehin mit meiner Gemütslage überfordert. Da ist es besser, nicht zu viel Futter für unbeholfenes Verhalten, mehr Rückzug, Ausgrenzung oder gut gemeinte Ratschläge zu geben. Und wie soll man auch richtig auf so etwas reagieren? „Wenn es dein Wunsch ist, dann stirb doch einfach!“ Nein! Zugegeben sehr schwierig so etwas zu wechseln!

Meine Todessehnsucht ist wie das Musical Elisabeth, die als Kaiserin Sissi eine Liebesbeziehung mit dem Tod eingeht. Er stellt Sie immer wieder vor Versuchungen, zu ihm zu kommen und am Ende gewinnt Er und trägt Sie von der Bühne. Ist dann meine Depression eine Art Liebeskummer? Dann würden vielleicht eine heiße Tasse Tee, ein Gespräch mit der besten Freundin und eine Liebeskomödie auf DVD, Netflix oder Co. helfen. Aber was wir uns als Betroffene wünschen, darüber schreibe ich in meinem nächsten Beitrag…